Die Stärke dieser Schrift [liegt] im zielbewussten denkerischen Voranschreiten. Sie gleicht einer geführten Bergwanderung, die nach etlichen Anstrengungen einen herrlichen Rundumblick gewährt. In
Begriffspaaren werden entfaltet: Wesen und Erscheinung, Wesen und Entwicklung, Wesen und Bewusstsein, wobei von Beginn an auf Aristoteles wie auch auf Platon Bezug genommen wird. [...]
Beispielhaft für jede Zusammenarbeit von platonisch orientierten Denkern mit den wissenschaftlich arbeitenden Aristotelikern ist die Darstellung beider Arbeitsrichtungen in einer Synthese, die auf
die Erkenntnis des eigenen Wesens baut. Den Begriff der Ich-Erkenntnis bezieht Steffen Hartmann allgemein auf das Wesen des Ich, aber er fragt auch nach dem jeweils konkreten Ich, das sich durch
seine Taten und aus den Schicksalszusammenhängen zu erkennen gibt. Damit ist ein Erkenntnisweg beschritten, den Thomas von Aquin begonnen hat. Bei ihm findet sich eine Lehre von den Engeln, die deren
Leiblichkeit und die Frage, ob sie Geschöpf sind oder ungeschaffen, mit umschließt. [...]
Eine beachtliche Höhe erreichen die Ausführungen, wo die Icherkenntnis zum Wendepunkt wird, an dem der Blick vom Menschen aus sich umwendet in die Engelperspektive. Macht der Mensch von seiner
Freiheit Gebrauch und bemüht sich um Wahrheit in seinem Leben, so setzt er sich in das rechte Verhältnis zu seinem Engel: „Der Engel lebt seiner Geistnatur nach in der Wahrheit. Der Engel kann nicht
lügen.“ (S. 82). [...]
Das Erarbeiten der einzelnen gedanklichen Schritte ist zeitaufwendig, denn man kann diese Schrift nicht einfach herunterlesen. Aber noch immer wird eine derartige Herausforderung viel zu wenig
angenommen. Es könnte manche ungute Zeiterscheinung verwandelt werden. Ich meine, statt quer zu denken, können wir hier das vertikale Denken lernen!
Matthias Bideau in die Drei 3/2022